Zinsen fallen in allen Mitgliedstaaten der EU in das steuerbare Einkommen der jeweiligen Gebietsansässigen. Auch der Bezug von Zinsen aus dem Ausland ändert nichts an deren Steuerbarkeit im Ansässigkeitsstaat des jeweiligen Nutzungsberechtigten. Wie man bereits früh erkannte, führt aber gerade die Vereinnahmung von Zinsen aus dem Ausland zu Steuerhinterziehungen. In diesen Fällen nutzt ein Anleger einen niedrigen Quellensteuersatz bzw. sogar eine Quellensteuerbefreiung von Zinsen im Niederlassungsstaat der die Zinsen auszahlenden Stelle im Zusammenhang mit einem unzureichenden Informationsaustausch zwischen diesem Staat und seinem Ansässigkeitsstaat, um so durch eine Nichtdeklaration der Zinsen in seinem Ansässigkeitsstaat einen Steuervorteil zu lukrieren bzw. einer Besteuerung sogar gänzlich zu entgehen.
Am konkreten Beispiel Österreich stellte sich dies in der Vergangenheit wie folgt dar: Zinszahlungen an in Österreich unbeschränkt steuerpflichtige Personen unterliegen regelmäßig einer Kapitalertragssteuer von 25 %, die unmittelbar von der kuponauszahlenden Stelle abgezogen wird. Steuerausländer hingegen, die in Österreich weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt haben unterliegenden in Österreich gem. § 1 Abs. 3 EStG lediglich der beschränkten Steuerpflicht nach Maßgabe des § 98 EStG. Nicht der Steuerpflicht in Österreich unterliegen demnach beispielsweise Zinsen aus Forderungswertpapieren (Anleihen, Pfandbriefe etc.) und Zinsen aus Geldeinlagen oder sonstigen Forderungen bei Banken. Kann der Anleger gegenüber der Bank bzw. kuponauszahlenden Stelle glaubhaft machen, dass er in Österreich weder einen Wohnsitz, noch einen gewöhnlichen Aufenthalt hat, also nicht der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegt, kann die Bank von vornherein von einem Quellensteuerabzug absehen.
Wie bereits erwähnt, ergibt sich aus einer solchen Steuerfreistellung von Seiten Österreichs aber nicht die Steuerfreiheit des Zinseinkommens für den Anleger. Dessen Ansässigkeitsstaat bleibt es nämlich unbenommen, das Welteinkommen der in seinem Hoheitsgebiet unbeschränkt Steuerpflichtigen und somit auch die in Österreich erzielten Zinserträge der Besteuerung zu unterwerfen. Zinsempfänger sind aber – insbesondere wenn im Ansässigkeitsstaat auch Vermögenssteuern eingehoben werden – geneigt, ihre Zinseinkünfte nicht zu deklarieren. Da es in den meisten Mitgliedstaaten keinerlei Steuersicherungsmechanismen gibt, kommt ihnen für Anleger aus anderen Staaten in diesem Bereich der Charakter von „Steueroasen“ zu.
Um diesem Kreislauf zu entkommen, war es daher notwendig, den beschriebenen Steuervermeidungsmöglichkeiten durch gemeinschaftsrechtlich koordinierte Maßnahmen entgegenzuwirken.
Dies geschah auf Ebene der Europäischen Gemeinschaft durch die Richtlinie 2003/48/EG im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen (Zinsen-RL). Diese sieht im Fall von grenzüberschreitenden Zinszahlungen grundsätzlich einen Informationsaustausch zwischen dem Ansässigkeitssaat des Zinszahlers und jenem des wirtschaftlichen Eigentümers der Zinsen vor. Unter Berufung auf ihre Bankgeheimnisse haben Belgien, Luxemburg und Österreich jedoch für einen in der Richtlinie näher definierten Übergangszeitraum eine Ausnahme von diesem Informationsaustausch erwirkt. Um eine gänzliche Nichtbesteuerung auszuschließen und so zumindest ein Minimum an Effektivität im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen zu gewährleisten, werden diese drei Staaten eine Quellensteuer auf grenzüberschreitende Zinszahlungen erheben, die zwischen dem Mitgliedsstaat der Zahlungsstelle und dem Ansässigkeitsstaat des Anlegers aufgeteilt wird.
Obwohl die Effektivität der Besteuerung von Zinserträgen im gemeinsamen Interesse der Mitgliedsstaaten liegt, begehen diese im Zuge der Umsetzung der Zinsen-RL eine Gratwanderung. So steht die EU-Quellenbesteuerung in einem Wechselspiel zwischen der von der Zinsen-RL intendierten Sicherung einer effektiven Besteuerung von Zinserträgen und der Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Finanzplatzes. Jedes Abweichen von den Vorgaben der Richtlinie könnte Umgehungsmöglichkeiten der Richtlinienregelungen eröffnen und so zwar einerseits die effektive Besteuerung von Zinserträgen beeinträchtigen, andererseits aber wiederum einen Vorteil für den Finanzplatz des jeweiligen Mitgliedsstaates bedeuten.